Seine Villa

Eine Humoreske von Paul Bliß
in: „Marburger Zeitung” vom 15.08.1894


In einem winzigen Gäßchen der westlichen Friedrichstadt wohnt Herr Friedrich Wohlgemuth. Er ist ein geborener Berliner, noch einer vom alten Schlage, an dem die seit den siebenziger Jahren sich mit großer Macht Bahn brechenden Neuerungen und Umwälzungen der alten Berliner Verhältnisse spurlos vorübergegangen sind. Seit zweiundzwanzig Jahren hat er das kleine, halbhelle Lädchen in der engen Gasse, in dem er einen kleinen Handel mit „Material, Mehl und Vorkostwaren” betreibt.

Seit zweiundzwanzig Jahren Tag für Tag dasselbe. Früh morgens um 7 Uhr schlägt er die Holzklappthüren vor seinen Fenstern und vor dem Eingange auf, lüftet das Local, besprengt mit einer längst verrosteten Gießkanne den Fußboden, fegt dann den Kehricht zusammen, stäubt die ausgestellten Waren und die großen Glasnäpfe ab — und dann kann's losgehen. Das Geschäft nämlich. Und es geht wirklich los. Aus der ganzen Nachbarschaft kommen all „die kleinen Leute” und kaufen für wenige Nickel den täglichen Bedarf; es sind zwar immer nur kleine Posten, aber auch diese summen sich. Und später kommen sogar die herrschaftlichen Dienstmädchen. Man wundert sich, daß diese Küchenfeen das unscheinbare Lädchen aufsuchen und an den großen Special­geschäften, wo sie vielleicht billiger kauften, vorübergehen, — ja, der Herr Wohlgemuth ist ein Mädchenkenner! Er weiß sie zu fesseln, sagt ihnen täglich neue Schmeicheleien, ist auch manchmal spendabel, schenkt ihnen ein Stückchen Seife oder gar ein Fläschchen Parfüm — er bucht dies alles aufs „Geschäfts­unkosten­conto” — und das zieht die eitlen Mädchen. Sie lassen sich schmeicheln; scherzen und schäkern auch mit dem kleinen Kaufmann, der doch immer ein — Mann ist. So hat er nach und nach etwas geschafft, denn er ist sehr sparsam; manch böser Nachbar behauptet sogar, er sei geizig — aber ganz gleich, er hat etwas geschafft.

Und wenn Herr Wohlgemuth des Abends sein Lädchen schließt, wenn er in seinem nach hinten heraus gelegenen Schlafkämmerchen den großen, eisenbeschlagenen Kasten unter dem Bette hervorzieht und die langen, dürren Finger die Gold- und Silber-Rollen und die Banknoten durchzählen, dann huscht es über sein sonst so friedlich lächelndes Gesicht wie wilde Freude. Fast diabolisch blitzt es aus den kleinen, grauen Augen hervor, wenn er seine in den langen Jahren mühsam erworbenen Schätze vor sich sieht und sich an dem Glanz der einfachen und Doppelkronen erfreut.

Aber nicht nur diese Freude ist seine Leidenschaft — o nein! Er legt sich gemächlich in die tief heruntergedrückten Polster seines mit dunklem, fettgewordenem Kattun bezogenen Sophas, zündet sich eine Vier- manchmal sogar eine Fünf-Pfennig-Cigarre an, bläst voll Wohlbehagen den Dampf in die Luft und träumt von — seiner Villa.

Seine Villa! Das ist sein Steckenpferd, seine Schwäche! Und er träumt, und träumt so süß und so wohlig!

Ein Ausdruck stiller Zufriedenheit kommt über das schon stark runzlige Gesicht, glückselig lächelnd schließen sich die noch eben so schlau zwinkernden Augen; die langen, dürren Hände über den Bauch zusammengelegt, aus dem Munde — die Cigarre zwischen den Zähnen — dicke, bläuliche Rauchwolken ausstoßend, so lehnt er in dem Polster, selbstbewußt, glücklich und zufrieden — und träumt von seiner Villa. Und dabei hat er noch gar keine — aber nicht viel fehlt an der Summe, ungefähr noch 1000 Mark, dann kann er sie kaufen. Und wie lange wird's denn noch dauern, vielleicht ein Jahr noch, dann hat er auch diese Summe wieder gespart. Dann aber, dann kann er sie kaufen — die Sehnsucht all seiner Träume, das Ziel seines Strebens, die ganze Hoffnungsfreude seiner Zukunft; die Villa, seine Villa in einem der westlichen Vororte Berlins!

Seit zweiundzwanzig Jahren hegt er diesen Traum und seit ebensolanger Zeit spart er auch, um denselben verwirklicht zu sehen. Seit zweiundzwanzig Jahren fährt er jeden Sonntag nachmittags — wenn er seinen Laden geschlossen hat — hinaus nach dem kleinen Vororte, geht dann wohl einige Dutzendmal um die Villa herum, vor dem Garten auf und ab, liebäugelt mit den grünen Fensterläden, nickt auch wohl der schlanken Jungfrau zu, die auf der Dachzinne die Wetterfahne trägt, oder er führt scherzhafte Gespräche mit der krausen Hecke, die sich als dichte Schutzmauer rings um den Garten zieht — bald, bald wird alles dies ihm gehören, er wird hier schalten und walten, er, der Besitzer dieser Villa!

Ach, welch' ein Traum! Zweiundzwanzig Jahre hat er gespart, oftmals hat er gedarbt und Noth gelitten, nur um seinen Wunsch erfüllt zu sehen. Er hat nicht geheiratet — aus Rücksicht für seine Villa, er hat sich von alle kostspieligen Vergnügungen fern gehalten — für seine Villa. Er muß sie haben! Der Gedanke, daß ein anderer ihm zuvorkommen könnte, bringt ihn zur Raserei. Und endlich sollte der Tag anbrechen, an dem er seinen Herzenswunsch erfüllt sah.

An einem wunderherrlichen Frühlingsmorgen kommt eine Frau zu ihm in den Laden, die zwar eine seiner besten Freundinnen ist, von der er aber weiß, daß sie klatscht, gern klatscht. Darum verabreicht er ihr schweigsam und schnell die verlangten Waren und geht dann wieder an seinen Tisch, wo er seine ganze Aufmerksamkeit den vor ihm liegenden kleinen Rosinen zuwendet, die zu sortieren er gerade beschäftigt war. Die gesprächige Nachbarin aber ist nicht feinfühlig, sie bleibt — o sie weiß so viel zu erzählen. Und der kleine Kaufmann hört sie an, — er muß ja wohl — aber er sortiert dabei seine Rosinen ruhig weiter. Plötzlich blickt er auf. Was sagte die Alte? Das ist ja nicht möglich! Und doch, sie sagt es noch einmal, er hat es deutlich gehört, Wort für Wort. — Sie sollte verkauft werden, seine Villa? — Ein Anderer hatte bereits mit dem Besitzer unterhandelt.

War das möglich? Himmel! Und nun beginnt er zu zittern, mehr und immer mehr, und aus den Augen und von den Gesichtszügen spricht die ihn durchdringende Erregung ihre deutliche Sprache. Ha! Wie ist es möglich! Er findet keine anderen Worte.

Und die Nachbarin? Hm, sie hat ihn genau betrachtet; ganz genau, ihr ist es nicht entgangen, welchen Eindruck ihre Worte auf ihn gemacht haben, — o, sie war schlau, berechnend, — und im Innern freute sie sich ihres gelungenen Streiches. Nur einmal, als der Händler fast toll wurde vor Wuth, empfand sie ein leichtes Mitleid mit ihm. — Der Aermste! Wenn er ahnte, daß slles dies nur ein Kniff des Villabesitzers war, dem daran lag, sein Häuschen gut und schnell zu verkaufen.

Aber er ahnt es nicht, bewahre — denn als das Weib den Laden verlassen, geschah etwas Ungeheueres. Er schloß das Geschäft am hellen, lichten Tage und klebte einen Zettel an die Thür, daß das Geschäft heute geschlossen bleibt. Dann stürzt er in sein Kämmerchen, steckt das Geld zu sich, alles, — dann in eine Droschke, nach der Potsdamer Bahn, ein Billet gelöst, den gerade bereitstehenden Zug bestiegen — und dann geht's hinaus nach dem Vorort, nach seiner Villa. Und nun gehört sie ihm. Er hat sie erstanden, sogar noch um tausend Mark billiger, als der Preis von vornherein ausbedungen war. Einen Augenblick hat er sich zwar über diese Großmuth des Verkäufers gewundert, ja, er stutzte sogar eine Secunde — ob die Sache wohl einen Haken haben könne? Aber im nächsten Augenblicke übermannte ihn schon wieder das Freudegefühl, er zahlte den Kaufpreis auf Heller und Pfennig — und nun ist er der Besitzer. — Jetzt athmet er wieder, er faßt sich an den Kopf; ist er's denn wirklich noch selber, er, Friedrich Wohlgemuth? Er blickt ringsum, sieht den Garten, die grünen Bäume, all die bunten, hübschen Blumen — und nun erst das Häuschen, wie sauber und schmuck! Er sieht es immer wieder an — ach, am liebsten möchte er diese Mauern liebkosen! So froh, so selig, so glücklich ist er, der Eigenthümer seiner neuen Villa!

Er ist ein ganz anderer Mensch geworden, seitdem er seine Villa hat. Natürlich bewohnt er sie. Sofort ist er nach dem kleinen Vorort übergesiedelt. Eine alte Verwandte führt ihm die Hauswirtschaft. Jeden Morgen fährt er nach Berlin und abends kommt er zurück. Er ist glücklich. Wenn er früh ins Geschäft kommt und durch die kleine Gasse geht, dann tritt er fester auf als früher. Sogar einen anderen Schritt hat er angenommen, energischer, selbstbewußter als ehedem — jetzt ist er ja Villenbesitzer! Und all die kleinen Leute rings um seinen Laden herum, er grüßt sie zwar noch, aber reservierter als sonst. — Spaß, eine Villa haben kann auch nicht Jedermann. Im Geschäft ist es ebenfalls anders geworden. Er hat einen jungen Mann engagiert, einen neunzehnjährigen, semmelblonden Jüngling mit schmachtenden Augen und kühner Habichtsnase, unter der sich eine empfindsame Sechse dreht. Dieser Adonis vertritt ihn, wenn er nicht da ist.

Jeden Morgen um 6 Uhr fährt der glückliche Mann nach Berlin, und abends um 9 Uhr kommt er zurück. Eine angestrengte Thätigkeit, aber er hat ja eine Villa, hat frische Luft? Allerdings hat man keine Canalisation hier, und manchmal sind die üblen Gerüche nicht abzuleugnen, aber das thut ja nichts. Und dann die Ruhe, o, die wunderbare Ruhe! So, so, also Ruhe? Nun ja, zugegeben, daß die vorübersausenden Eisenbahnzüge manchmal die seligen Träume zerreißen, daß einem oft etwas gepfiffen wird, wenn man sich im Vorraum des Paradises wähnt — aber auch das ist ja nichts im Vergleich zu den tausend Annehmlichkeiten, die solch' eine Villa bietet — allerdings abgesehen von den Mücken, die den Aufenthalt im Freien oft unmöglich machen, und von den Raupen, die jede schwache Natur erschrecken, wenn sie leise kitzelnd angekrochen kommen — das alles sind ja nur Lappalien, an die man sich gewöhnt.

Gewiß! Man gewöhnt sich an all' diese kleinen Plackereien — oder vielmahr, man muß sich daran gewöhnen, man hat ja draußen seine Villa. Und wie schön klingt es doch, wenn man in Gesellschaft von guten Kunden und Bekannten ist und dann von seiner Villa sprechen kann. Natürlich werden ja nur all' die Vorzüge gerühmt — selbstverständlich! Wer wird denn auch sagen, daß es alle Augenblicke durchregnet, daß die Außenwände stocken — ja, ja, und daß die Raupen in jedem Jahre fast alle Blätter von den Bäumen fressen? Wer wird denn varrathen, daß man bei Regenwetter nur mit hohen Stulpenstiefeln von einem Hause zum andern gelangen kann — und dergleichen mehr? Thorheit! Mögen doch Andere auch noch hereinfallen. Und Herr Kaufmann Friedrich Wohlgemuth lacht in sich hinein, und wundert sich über sich selbst. Ja, er ist schadenfroh geworden hier draußen — aber er hat ja seine Villa.

Zwei Jahre hatte er sie jetzt. Zwei Jahre hat er gehofft, sich an all die kleinen Unannehmlichkeiten zu gewöhnen. Er ist ja sein Lebenlang bescheiden gewesen, warum also sollte es ihm schwer werden, diese kleinen Störungen mit in den Kauf zu nehmen? Und wenn ihn manchmal der Groll mit Gewalt packt, wenn der Aerger ihm die Verdauung störte — er wies ihn immer wieder zurück, er würde sich dennoch an all' das Ungemach gewöhnen.

Aber er hat sich nicht daran gewöhnt. Denn als zum drittenmal der Herbst herankam mit seinen kalten Regentagen und seinen anhaltenden Stürmen, als er erkältet und total verschnupft Tag für Tag durch die bodenlos scheinenden Wege des Vorortes hindurch zur Bahn sich winden mußte, als er des Abends bei der jämmerlichen Beleuchtung keinen Schritt weit vor sich sehen konnte und über und über mit Koth bespritzt, endlich seine Villa erreichte — da war's auch um seine Geduld geschehen. Das mußte anders werden. Er sann auf Abhilfe. Und er fand sie! Fand sie in dem nahe bei seinem Lädchen gelegenen Restaurant, in dem er seit einiger Zeit zu Mittag und abends aß, fand sie bei der lustigen, schelmischen Unterhaltung der jungen Witwe, der Inhaberin des Locals! Himmel! Welch' ein Unterschied! Hier war es gemüthlich, so anheimelnd, so nett — ha! Und da sollte er abends in die unwirtliche Gegend hinaus? Nicht um die Hölle! Verflogen der Wonnenschauer seines einst so heiß ersehnten Wunsches, vergessen die hoffnungsreiche Zukunft, die er auf seinem Tusculum sich erblühen sah — dahin, alles, alles dahin vor diesen zwei schwarzen Augen, diesem prächtig schwarzgelockten Frauenkopf, diesen frischrothen Lippen, um die ein entzückendes Lächeln spielte. Und nun waren die Tage zu zählen, die ihn noch draußen in seiner Villa sahen. Die Haushälterin konnte schalten und walten, wie es beliebte; Herr Friedrich Wohlgemuth störte sie nicht mehr.

Bewahre, nie mehr! Denn er bewohnte jetzt ein möbliertes Zimmer ganz in der Nähe jenes Restaurants; und ein großer Zettel an dem Zaun seiner Villa zeigte, daß diese für jeden annehmbaren Preis losgeschlagen werden sollte.

Dahin war es gekommen. Und die Leute aus der kleinen Gasse, in welcher Herrn Wohlgemuths Lädchen war, konnten nicht Wunder genug erzählen von der Aenderung, die mit dem einst so simplen kleinen Kaufmann vorgegangen war. Man hatte ihn in Gesellschaft jener jungen Witwe gesehen; einmal, noch einmal, öfter dann und öfter. Und wie intim sie thaten! Nein, dieser Herr Wohlgemuth! Wer hätte das von ihm gedacht! Aber so ist's, wenn es die Alten kriegen, dann kriegen sie's mit Macht!

Und richtig, so war es auch! Was all' die Erfahrungen und Erlebnisse nicht fertig gebracht haben — zwei schwarze Schelmenaugen haben's geschafft: Herr Wohlgemuth ist ein Mann geworden. Wie umgewandelt ist er, alle Marotten und altväterliche Gewohnheiten hat er abgelegt; wie verjüngt zeigt er sich jetzt, kräftig, elastisch, energisch und geschmeidig.

Und nach einem halben Jahr hat er sie geheiratet! Himmel, das war ein Aufruhr in dem Gäßchen! Herr Friedrich Wohlgemuth verheiratet! — Die Kirche faßte kaum den Schwarm der Neugierigen. Und wie er aussieht an der Seite dieser hübschen Witwe! Entschieden ein sehr respectabler Mann, zweifellos! Wahrhaftig, die Liebe verjüngt! Ja, sie verjüngt! Und nun lehnt sich der glückliche Ehegatte in die Polster des Wagens zurück, umfaßt sein junges, einziges Weibchen und drückt ihr einen herzhaften Kuß auf die vollen rosigen Lippen — und nun, nun ist er endlich glücklich.

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